Erika Spiegel wurde 1925 in Berlin geboren. Nach ihrem Universitätsstudium der Soziologie, der Nationalökonomie und der neueren Geschichte promovierte sie 1956 zum Dr. phil. Zwischen 1958 und 1963 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am renommierten Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Danach führte sie für zwei Jahre einen Forschungsauftrag der List-Gesellschaft zur wissenschaftlichen Begleitung und Evaluierung des Aufbaus neuer Städte in Israel durch. Von 1966 bis 1968 war sie Mitarbeiterin in der der Stadt Hannover unter Stadtbaurat Hillebrecht. 1968 wurde sie an die neugegründete Abteilung Raumplanung der Universität Dortmund als Professorin für Soziologische Grundlagen der Raumplanung berufen. In Dortmund lehrte sie fast zehn Jahre, bis ihr 1978 die Leitung des Deutschen Instituts für Urbanistik in Berlin übertragen wurde. 1981 nahm sie einen Ruf an die TU Hamburg-Harburg auf eine Professur für Sozialwissenschaftliche Grundlagen des Städtebaus an.
Auch nach ihrer Emeritierung 1993 war sie in der Raumplanungsszene weiter präsent. Bis vor wenigen Jahren nahm sie auf Tagungen oder in Zeitschriftenveröffentlichungen zu aktuellen stadtplanerischen Fragen Stellung. So kam es, dass auch viele jüngere RaumplanerInnen Frau Spiegel auf unterschiedlichen Fachveranstaltungen begegnet sind.
Erika Spiegel war fast 60 Jahre lang Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung und gehörte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung an, deren Vizepräsidentin sie in den neunziger Jahren war. Sie hat verschiedene renommierte wissenschaftliche Preise und Auszeichnungen erhalten kw
Ich selbst lernte Frau Spiegel Mitte der 70er Jahre kennen, als sie mich als Wissenschaftlichen Assistenten an ihrem Fachgebiet einstellte. Sie interessierte sich für alle Veränderungen unserer Städte und der städtischen Gesellschaft (aber auch für historische Stadtgesellschaften in Asien wie zum Beispiel in Nepal), beobachtete genau und war präzise in ihren Diagnosen. Aber jede Art von Dogmatismus, gleich welcher Couleur, war ihr fremd. So baute sie an ihrem Fachgebiet ein Team von Nachwuchswissenschaftlern auf, von denen jeder ein eigenes Forschungsinteresse, jeder andere wissenschaftstheoretische Grundüberzeugungen und jeder andere politische Neigungen hatte. Keinem zwang sie ihre Themen oder ihre Einschätzungen auf, vielmehr nahm sie Anteil an den Forschungsthemen, die die MitarbeiterInnen sich für ihr jeweiliges Promotionsprojekt ausgesucht hatten, sei es Hochschulstandortplanung, Raumplanung im Sozialismus, die Anwendung des Behaviour-Setting-Ansatzes oder Raumplanung in Südostasien (dabei gab sie die Hoffnung nie auf, dass sich aus den disparaten Einzelthemen irgendwann ein kohärentes Forschungskonzept des Fachgebiets ergeben würde). Wir waren ein eher ungewöhnliches Team, besonders in der damaligen, von ideologischen Grabenkämpfen geprägten Zeit. Doch wir verstanden uns über alle Unterschiede hinweg. Oder vielleicht gerade deswegen. Und freuten uns, als wir im Jahre 2010 anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde für Frau Spiegel in Dortmund wieder zusammentrafen.
Frau Spiegel vertrat mit der Stadt- und Regionalsoziologie in Dortmund eines der „Grundlagenfächer“ der Raumplanung. Sie ließ sie sich von Anfang an und mit großem Elan auf die zentralen Aufgaben der Raumplanung als wissenschaftlicher und praktischer Disziplin ein. Das war in jenen Jahren keineswegs selbstverständlich, als der wissenschaftliche Diskurs an der jungen Abteilung Raumplanung zeitweise von der Konkurrenz zwischen Raumplanung als integrativer Disziplin und den Stammdisziplinen der einzelnen Wissenschaftler überdeckt wurde. Frau Spiegel vertrat innerhalb der Abteilung die sozialwissenschaftliche Perspektive, aber sie erwartete von den Studierenden zu keinem Zeitpunkt, dass sie sich mit der Dogmengeschichte der Soziologie vertraut machten. Ihr Ausgangspunkt waren die planungspraktischen Probleme, in der Stadtentwicklungsplanung zum Beispiel oder bei der Planung von Quartieren. Bezeichnenderweise nannte sie ihre Anfängervorlesung nicht „Einführung in die Stadtsoziologie“, sondern „Familie, Wohnung Umwelt“. In den hochschulpolitischen Auseinandersetzungen der frühen Jahre hat sie sich stets für das Projektstudium und den interdisziplinären Ansatz in der Raumplanung stark gemacht.
Genauso war sie bemüht, Kooperationen mit den anderen Hochschullehrern der Abteilung aufzubauen, und zwar gerade auch mit jenen, die von ihrem Hintergrund her ingenieurwissenschaftlich geprägt waren. Unter den Hochschullehrern war sie eine Ausnahmeerscheinung, als sie im Team mit anderen Professoren gemeinsame Lehrveranstaltungen entwickelte
Erika Spiegel hat mehr als 50 Jahre lang den wissenschaftlichen Diskurs um Städtebau und Raumplanung in Deutschland geprägt. Sie hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem breiten Spektrum stadtsoziologischer, städtebaulicher und raumplanerischer Themen in Veröffentlichungen und Vorträgen zu Wort gemeldet. In den achtziger Jahren machte sie mit einer empirischen Untersuchung zu nicht-Familien-gebundenen Haushaltstypen auf einen blinden Fleck in der damaligen Sozialwissenschaft aufmerksam. Später setzte sie sich mit der Krise regulativer Politik auseinander, auf der praktischen Ebene ergänzt um die kritische Analyse von neueren Erfahrungen mit unterschiedlichen Beteiligungsverfahren in Deutschland und der Schweiz.
Als die die Fakultät Raumplanung der TU Dortmund ihr im Jahre 2010 die Ehrendoktorwürde verlieh, überraschte die Geehrte ihre Zuhörer in ihrem Festvortrag mit wieder einem neuen Thema: einer fundierten kritischen Analyse aktueller städtebaulicher Entwicklungen in westlichen Ländern. Ihre Diagnose einer „wachsende Divergenz von Standort, Funktion und Gestalt“ in unseren Städten ließ aufhorchen. An den Konsequenzen werden sich die Praktiker unter uns noch lange abarbeiten müssen.
Peter Zlonicky, ihr ehemaliger Kollege, fasste am Tag der Ehrenpromotion Frau Spiegels Wirken für die Raumplanung sehr treffend zusammen: „In der Summe zeugen ihre Arbeiten von einer idealen Verknüpfung von Forschung und Lehre und ebenso von einer eher seltenen Bereitschaft, die Verantwortung der Universität für die Stadt ernst zu nehmen.“
Immer wieder hat sie sich auch noch in den letzten Jahren in Briefen oder Emails zu wissenschaftlichen Arbeiten jüngerer Kollegen geäußert. Zuweilen gab sie auch Ratschläge, ohne je aufdringlich zu sein. Denen, die sie kannten, werden ihre konstruktiven Anregungen und ihr menschliches Verständnis fehlen.
Für die Fakultät Raumplanung | Prof. Dr. Einhard Schmidt-Kallert